43 Delegierte der Europäischen Konferenz für evangelische Kirchenmusik (EKEK) aus 13 Ländern, von Frankreich bis Ungarn, von Schweden und dem Baltikum bis zur Schweiz trafen sich in Lausanne in der „Suisse romande“, der französischsprachigen Westschweiz. Die Tagung, zu der Benoît Zimmermann, Delegierter der evangelisch-reformierten Kirche der Westschweiz eingeladen hatte, stand unter dem Thema „450 Jahre Genfer Psalter“.
Der Genfer Psalter, auch Hugenottenpsalter genannt, beinhaltet die in Reime gesetzten und mit Melodien versetzten 150 biblischen Psalmen. In Auftrag gegeben hatte diese planmäßige Neuschöpfung der Reformator Jean Calvin (1509-1564), der 1538 in Straßburg den Gemeindegesang vor allem mit Liedern deutscher Herkunft kennen gelernt hatte. Bereits 1539 veröffentlichte er das erste Gesangbuch für die reformierte Kirche in französischer Sprache. Da Calvin aber für die Gemeindelieder nur biblische Lieder zuließ, beschränkten sich diese auf die 150 Psalmen und wenige andere Lobgesänge in der Bibel (Lobgesang des Simeon, Magnificat). Calvins Mitarbeiter und Nachfolger in Genf Théodore de Bèze und Clément Maraut schrieben bis 1562 die gereimten Texte. Dazu schuf Loys Bourgeois die meisten der 110 Melodien, die in den darauffolgenden Jahren v.a. von Claude Goudimel mehrstimmig gesetzt wurden.
Welch enorme Bedeutung der Genfer Psalter auch heute noch in der Schweiz hat, bekamen die Tagungsteilnehmer in Konzerten, Vorträgen, Singstunden und Gottesdiensten zu spüren.
Am Freitagmorgen, nach einer Busfahrt entlang des Genfer Sees mit herrlichem Blick auf die Alpen, wurden wir in der Kathedrale Saint-Pierre in Genf, der Stadt Calvins, begrüßt. Die Bedeutung des Genfer Psalters wurde kurz dargelegt: er war eine Achse, um die sich das Leben der Reformierten drehte, und ein Halt während der Verfolgungen. Bis zum Ende des 16.Jahrhunderts war Genf Zufluchtsort vieler reformierter Flüchtlinge aus Frankreich, Italien, aber auch aus Flandern und England. Das gemeinsame Singen der Psalmlieder, nicht nur im Gottesdienst, sondern auch bei den Hausandachten, verstärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl. Calvin: „Die Psalmen haben die Kraft, die Herzen zu stärken.“ Bezeichnenderweise wurde der Komponist Goudimel 1572 Opfer der Bartholomäusnacht.
Die Brücke zur Neuzeit schlug der Organist Vincent Thévenaz, der Orgelbearbeitungen von Psalmmelodien ausschließlich von Komponisten der Westschweiz aus dem 20. Jh. spielte.
Eine Führung im Museum der Reformation, dem ehemaligen Wohnhaus Calvins gleich neben der Kathedrale, gab nicht nur einen Einblick in die Geschichte der Reformation – der Rat der Stadt Genf hatte im Jahr 1536 für die Annahme der Reformation gestimmt - , sondern auch in das kulturelle und soziale Umfeld der Reformatoren Luther und Calvin. In einem Bereich des Museums sind Manuskripte, Radierungen und auch Karikaturen zu Calvins Leben in Genf zu sehen, ein weiterer Bereich ist dem Buchdruck gewidmet mit den ersten Gesangbüchern des 16. Jahrhunderts und Bibeln in den Ursprachen Griechisch und Hebräisch, in Lateinisch, Deutsch, Französisch und Englisch, einige in Parallelübersetzungen und mit handschriftlichen Kommentaren Calvins.
Calvin, 1509 in Noyon geboren, studiert ab 1523 in Paris, Orléans und Bourges zunächst Jura; unter dem Einfluss von an Luther orientierten Humanisten beginnt er Bibelstudien, lernt Latein und Griechisch. Der lutheranischen Häresie verdächtigt, sieht Calvin sich gezwungen, aus Paris nach Basel zu fliehen. Hier vollzieht sich seine entschlossene Hinwendung zur Reformation; er verfasst 1536 die „Christianae Religionis Institutio“, ein theologisches Lehrbuch, das sich an Luthers Schriften orientiert.
Guillaume Farel, der erste reformierte Pfarrer in Genf, holt Calvin als Mitarbeiter zu sich. So wird dieser „Lektor der Heiligen Schrift“ in Genf, verfasst aber auch eine Kirchenordnung, die jeden Bürger mit dem Ausschluss vom Abendmahl bestraft, der dieser Ordnung nicht zustimmt. Der Stadtrat weist aber die übereifrigen Pastoren aus, Calvin übernimmt in Straßburg eine französischsprachige Gemeinde. Nach einem Rekatholisierungsversuch des Bischofs von Carpentras (Provence) rufen ihn die Genfer aber wieder zurück. Bis zu seinem Tod ist er nun Pfarrer und Lektor in Genf. Diesmal wird Calvins Kirchenordnung genehmigt. In ihr werden die Aufgaben der Pfarrer, Lehrer, Ältesten und Diakone beschrieben (dazu gehört u.a. auch die Überwachung der Lebensführung!), aber auch der Dienst am Armen und Kranken als praktische Evangeliumsverkündigung.
1559 wird die Genfer Akademie gegründet, an der zukünftige Pastoren v.a. aus Frankreich studieren. Die erste protestantische Kirche „Temple du Paradis“ wird im Jahr 1563 errichtet. Gesundheitlich beeinträchtigt durch die hohe Arbeitsbelastung stirbt Calvin 1564 im Alter von 55 Jahren.
Zwei Vorträge ergänzten die Informationen über den Genfer Psalter: Im Temple de Saint-Gervais referierte der Engländer Francis Higman über die Entwicklung des Buchdrucks in Genf; allein 1562 wurden 30000 Exemplare des Genfer Psalters gedruckt. Benoît Zimmermann hatte eine aufwendige Statistik angefertigt, aus der er Informationen gab zu Reimform und Rhythmik der Strophen, zum Ambitus der Melodien, der selten eine Oktave überschreitet, und zum Verhältnis von Texten und Tonarten.
Zum Abschluss des ausgefüllten Tages in Genf durften die Tagungsteilnehmer ein Chorkonzert auf hohem Niveau genießen. Das Ensemble „Post-Scriptum“ sang Psalmvertonungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert und als Kontrastprogramm die sehr anspruchsvolle doppelchörige Messe von Frank Martin.
Leider verlieren auch die Kirchengemeinden in der Altstadt Genfs viele ihrer Mitglieder: in St. Gervais findet nur noch einmal pro Monat ein Gottesdienst statt, dieser allerdings mit einer Kantate, ansonsten wird der Kirchenraum für Vorträge und Konzerte genutzt.
Der dritte Tag der EKEK-Begegnung in Lausanne war ganz dem Musizieren gewidmet. In der barocken Kirche St. Laurent gab es einen Workshop zum Thema Orgelbegleitung alter und moderner Kirchenlieder. Anschließend hatten alle die Möglichkeit, unter der Leitung des dortigen Kantors einige Psalmvertonungen zu singen, und zwar vierstimmige Sätze sowohl von Goudimel und Bourgeois als auch von zeitgenössischen Komponisten.
In der Kirche St. François konnte man in einer Singstunde und im anschließenden Abendgottesdienst das 2007 herausgekommene Gesangbuch „Alleluia“ der Westschweiz kennenlernen, das der junge Organist Benjamin Righetti erläuterte. Natürlich bestehen die ersten 150 Nummern aus den Psalmliedern, größtenteils in vierstimmigen Sätzen des 16. Jahrhunderts, aber auch dreistimmigen neuen Harmonisationen im alten Stil. Die Melodien der übrigen Lieder sind fast alle aus dem Ausland adaptiert, neues eigenständiges Liedgut gibt es erst seit 1970.
Am Sonntagmorgen gab es ein reiches Angebot an unterschiedlichen Gottesdiensten, darunter ein Gottesdienst in St. François in drei Sprachen für die EKEK-Teilnehmer, ein ökumenischer Gottesdienst, ein mit Kindern gestalteter Gottesdienst in der Kathedrale und ein „experimenteller Gottesdienst“ in St. Laurent mit Gesprächen untereinander, was nur dort möglich ist, weil es in der Mitte des Raums nicht die üblichen Bänke gibt und die Stühle im Kreis angeordnet werden können.
Der Sonntagnachmittag gehörte ganz der Besichtigung der größten gotischen Kathedrale der Schweiz. Auf dem höchsten Punkt des Altstadthügels erbaut, prägt sie das Stadtbild von Lausanne. Der Domorganist Jean-Christophe Geiser erklärte ausführlich die 2003 erbaute Orgel des amerikanischen Orgelbauers Fisk: mit über 7000 Pfeifen, 135 Registern (einschließlich 11 Registern für das noch zu erbauende Fernwerk) und fünf Manualen auf zwei Spieltischen, auf der Orgelempore und im Kirchenschiff, ist sie die größte Orgel der Schweiz. Die vielfältigen Klangkombinationen demonstrierte Geiser mit Werken vom 17. bis 20. Jahrhundert. Dann hatten die weither gereisten vorzüglichen Organisten die Möglichkeit, das große Instrument selbst einmal zu spielen.
Natürlich gehören zu einer Tagung der EKEK nicht nur Informationen des gastgebenden Landes, sondern auch der persönliche Austausch unter den Delegierten, der hauptsächlich bei den gemeinsamen Mahlzeiten erfolgte. Auch dafür hatte Benoît Zimmermann vorzüglich gesorgt, auch ein Schweizer Fondue durfte nicht fehlen, und bei den Meringuen mit Crème double musste man einfach den Gedanken an die Pfunde vergessen. Deshalb gilt ihm als alleinigem Organisator ein großes Lob und herzliches Dankeschön für den reibungslos gelungenen Verlauf der Tagung.
Ein Ad libitum - Programm an den zwei folgenden Tagen führte zu zwei sehenswerten romanischen Klosteranlagen.
Der erste Ausflug führte nach Payerne, 50 km nördlich von Lausanne gelegen, wo Benoît Zimmermann sein Zuhause hat. Die cluniazensische Abtei Paterniacum bestand bis zur Reformation 1536, danach wurde die Kirche weltlich genutzt und blieb deshalb in ihrer rein romanischen Gestalt unverändert – nach den Worten des Organisten ein „Skelett ohne Fleisch“. Das „Fleisch“ ist heute die Orgel, ein Kleinod für Organisten. Die neue italienische Orgel im Renaissancestil hat eine mitteltönige Stimmung mit Doppeltasten für dis/es und gis/as und nur weiche Register mit Labialpfeifen, der menschlichen Stimme ähnlich.
Neben der Abtei wurde im 14. Jahrhundert eine Pfarrkirche für die Stadtbürger gebaut, in der heute die Gottesdienste stattfinden. Ihre Stellung zwischen dem calvinistischen Genf im Süden und dem deutschsprachigen Bern im Norden ist in einer Besonderheit sichtbar: während die Gesangbücher bis 1866 nur den Genfer Psalter ohne Choräle enthielten, gibt es an der Orgelempore ein Notenblatt in Holz geschnitzt, auf dem die Noten von „Jesus, meine Zuversicht“ stehen.
Der zweite Ausflug führte nach Romainmôtier im Schweizer Jura, wo sich das um 450 gegründete älteste Kloster der Schweiz befindet. Gut erhaltene Fresken und Kapitelle schmücken Vorhalle und Kirchenraum aus dem 10. bis 14. Jahrhundert. Zwei Kapitelle im Chorraum veranschaulichen den Satz „Le temps fuit“ (Die Zeit flieht), der gleichsam als Mahnung auf dem Uhrturm über der Pforte zu lesen ist: das erste Kapitell zeigt zwei Personen - Tag und Nacht -, die vor der Zeit, dargestellt als Drache, fliehen. Das zweite Kapitell zeigt Tag und Nacht freudig vereint in der Ewigkeit, denn dort gibt es keine Zeit. Auf der 1972 errichteten viermanualigen Kirchenorgel und der auf dem Dachboden der ehemaligen Zehntscheune 1991 wiederaufgebauten Hausorgel von Albert Alain (1880-1971), dem Vater des Komponisten Jehan Alain, finden häufig Orgelkurse statt. Heute wohnt in den Klosteranlagen eine ökumenische Frauengemeinschaft, die Exerzitien, Tage der Stille und verschiedene Tagungen anbietet.
Eine Einladung zu Jacques und Elsbeth Vaucher in Yverdon-les-Bains mit einem liebevoll zubereiteten Abendessen bildete einen unvergesslichen Abschluss dieser eindrucksvollen Tage in der Schweiz.
Erika Hansert